Die Landesversammlung der Europa-Union Bayern hat im April 2019 unter dem Titel „Europa sozial fortentwickeln“ einen Antrag angenommen, in dem gefordert wird, dass die EU ihre Mitgliedstaaten dazu bringen soll, für alle Arbeitsverhältnisse gerechte Mindestlöhne vorzuschreiben. Das ist zwar in den meisten Mitgliedstaaten durch Tarifverträge oder per Gesetz längst – oder wie Deutschland erst in jüngerer Vergangenheit – geschehen. Dass die Mindestlöhne angesichts sehr unterschiedlicher Produktivität und Lebenshaltungskosten von Land zu Land verschieden hoch sind, ist dabei hinzunehmen. Aber immer noch gibt es einige Länder, die überhaupt keinen gesetzlich oder tariflich festgelegten Mindestlohn kennen. Dadurch haben viele Beschäftigte – vor allem geringer qualifizierte – Mühe, ihr Existenzminimum zu sichern und dies, obwohl sie arbeiten. Das zu ändern ist Ziel des Beschlusses unserer Landesversammlung.
Wie aktuell und schwerwiegend das Problem ist, zeigt sich daran, dass es die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihren „Politischen Leitlinien“ an die erste Stelle des Kapitels „Die soziale Säule Europas“ gestellt hat. Die Leitlinien beschreiben den Rahmen für die Arbeit der neuen Kommission in den kommenden fünf Jahren. Sie sind gleichzeitig eine Aufgabenbeschreibung der Präsidentin für die Ressorts ihrer jeweiligen Kommissarinnen und Kommissare. Frau von der Leyen kündigt darin an, dass sie in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit ein „Rechtsinstrument“ vorschlagen werde, mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder Arbeitnehmer in der EU einen gerechten Mindestlohn erhält, der ihm am Ort seiner Arbeit einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.
Diese Ankündigung klingt nach Entschlossenheit und Tatkraft. Wird also eine lange bestehende Ungerechtigkeit nun endlich durch das Eingreifen des europäischen Gesetzgebers beseitigt? Doch kündigt die Kommission nur ein „Rechtsinstrument“ an. Gemeint ist damit wohl eine nicht verbindliche Empfehlung, keine Richtlinie oder Verordnung, also kein für die Mitgliedstaaten verbindlicher Gesetzesakt. Dadurch wird zwar ein gewisser moralischer und politischer Druck auf die Mitgliedstaaten erzeugt. Aber ob sie die Empfehlung umsetzen, steht im Ermessen der nationalen Gesetzgeber. Der Grund für diese Zurückhaltung der Kommission liegt in der im EU-Vertrag festgelegten Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten.
In Artikel 3 des EU-Vertrags sind die Ziele der Europäischen Union aufgezählt. Dazu gehört eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt und die soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz fördert. Präzisiert sind diese Ziele in den Artikeln 151 bis 161 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dort steht auch, mit welchen Mitteln sie erreicht werden sollen und wie dabei die Zuständigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und dem EU-Gesetzgeber verteilt ist. Artikel 153 AEUV sagt zwar, dass die Union die Tätigkeit der Mitgliedstaaten durch verbindliche Gesetzesakte unterstützen und ergänzen darf, wenn es um Arbeitsbedingungen und sozialen Schutz geht. Darunter würde auch die Festsetzung von Mindestlöhnen fallen. Aber der letzte Absatz des Artikels 153 lautet ausdrücklich: „Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt …“
Bei allem guten Willen und neuem Schwung werden also auch die neue Präsidentin und ihre Kommission ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten nur empfehlen, aber nicht verbindlich anordnen können.
Auch auf anderen für Europas Beschäftigte wichtigen Gebieten, auf denen laut Artikel 153 AEUV die EU die Tätigkeit ihrer Mitgliedstaaten zwar nicht ersetzen, aber – auch durch Gesetzgebung – unterstützen und ergänzen darf, bestehen hohe Hürden: Über Regeln für soziale Sicherheit und sozialen Schutz, Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages, kollektive
Arbeitnehmerrechte, einschließlich der Mitbestimmung und für Beschäftigungsbedingen der Staatsangehörigen dritter Länder beschließt der Rat – also die Mitgliedstaaten – einstimmig. Das Parlament wir nur angehört, es hat nicht mitzuentscheiden. Und stimmt auch nur ein Staat gegen einen Vorschlag, so kann dieser nicht angenommen werden. Besonders das Vereinigte Königreich war in der Vergangenheit in vielen Fällen der große Bremser, wenn es um Verabschiedung sozial- oder arbeitsrechtlicher Vorschriften ging. Dieses Problem wird sich zwar durch den Brexit lösen. Aber noch immer wird es schwierig sein, einstimmig zu weiteren gemeinsamen Regeln zu kommen.
Und dass das Europäische Parlament nur ein Anhörungs-, kein Mitentscheidungsrecht hat, kann man mit Recht als Demokratiedefizit bezeichnen.
Nun hat diese Zuständigkeitsverteilung einen ernst zu nehmenden Grund: Regeln zur sozialen Sicherheit steuern die nationalen Systeme der Sozialversicherung, die traditionell von Land zu Land sehr unterschiedlich ausgestaltet sind und deren Harmonisierung angesichts unterschiedlicher Lebenshaltungskosten, Produktivität und Finanzierungswege (Beiträge der Beschäftigten, der Arbeitgeber und/oder Steuermittel) in absehbarer Zeit unrealistisch ist. Außerdem würde damit tief in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingegriffen. Dasselbe gilt für die Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen. Denn anders als für den Umgang mit Asylsuchenden, für den es gemeinsame Regeln gibt, gilt für Arbeit Suchende: Die Mitgliedstaaten dürfen allein festlegen, wie viele Drittstaatsangehörige in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort zu arbeiten (Art. 79 Abs. 5 AEUV). Auch das ist ein wichtiger Bestandteil staatlicher Souveränität.
Ferner gilt es die Autonomie der Tarifpartner zu respektieren, die in den EU-Ländern sehr unterschiedlich ausgestaltet ist. Deshalb das Einstimmigkeitserfordernis auch bei Themen wie Arbeitnehmerschutz bei Kündigungen und kollektive Arbeitnehmerrechte.
Selbst wenn es also gute Gründe dafür gibt, dass der EU-Gesetzgeber im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts nur begrenzt zur Harmonisierung der Regeln und Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen beitragen kann, bleibt ein Dilemma: Ohne weitere Angleichung wird sich das Ziel des sozialen Fortschritts nur begrenzt und in weiterhin je nach Land sehr unterschiedlichem Tempo erreichen lassen. Bei den Bürgerinnen und Bürgern bleibt das Gefühl, dass die EU soziale Aspekte weniger ernst nimmt als die Förderung des Wettbewerbs. Doch die Mehrheit der Menschen in allen Mitgliedstaaten will gleichzeitig, dass der Kernbereich staatlicher Souveränität erhalten bleibt und nicht auf die EU übergeht – und dazu gehören nach modernem Verständnis auch die Systeme sozialer Sicherheit und Grundfragen des Arbeitsrechts.
Für die Europa-Union bedeutet das: Bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit muss sie weiter transparent machen, dass wir in der EU nicht beides gleichzeitig haben können: Mitgliedstaaten, die keine weiteren Bestandteile ihrer Souveränität an die europäische Ebene abtreten und eine starke EU, die alle Probleme löst, die die Mitgliedsländer nicht zufriedenstellend lösen können oder wollen. Den Menschen beides gleichzeitig zu versprechen, ist unredlich und fördert am Ende nur den Europaverdruss. Die Staaten, aber auch wir, die Bürgerinnen und Bürger der EU, müssen uns für eine der Alternativen entscheiden.