„Europas Perspektiven nach dem Brexit“ zu diesem Thema lud das städtische Europabüro, europe direct assoziierter Partner in Kooperation mit der Europäischen Kommission, den Referenten Prof. Dr. Heinemann ein. Heinemann leitet am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim den Forschungsbereich Öffentliche Finanzen.
Oberbürgermeister Markus Kennerknecht begrüßte den Referenten im mit Vertretern aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gut besuchten Sitzungssaal des Rathauses und hieß ihn herzlich in der Maustadt willkommen. Kennerknecht freut sich, dass der Professor bereits zum 5. Mal in Memmingen ist.
Zu Beginn seiner Ausführungen unterstrich Heinemann, dass „die Entscheidung des Vereinigten Königreichs zum Austritt aus der EU eine Zäsur im europäischen Integrationsprozess markiert“. So warf er eingangs bei gut 90 Zuhörerinnen und Zuhörer zahlreiche Fragen auf. Beispielsweise, welches neue Modell für die Beziehung des Landes zur EU absehbar sei oder welche wirtschaftlichen und fiskalischen Folgen der Austritt für das Land selber und die verbleibenden Mitgliedstaaten habe?
Die Antworten auf diese Fragen sind sehr komplex und stellen Großbritannien vor enorme Herausforderungen. “Der Brexit wird für das Vereinigte Königreich wesentlich mühsamer und kostspieliger, als das viele Befürworter beim Referendum erwartet haben“, so Heinemann. Die Hoffnung, dass das Land durch den Wegfall der EU-Beiträge Geld sparen könne, gehe nicht auf. Schon jetzt wird deutlich, dass der Brexit-Prozess viele Tausend Neueinstellungen in den britischen Ministerien nötig macht. „Offenbar ist doch nicht alles, was in Brüssel gemacht wird, so unsinnig“, folgerte Heinemann, der dem Rednerteam der Europäischen Kommission angehört. Hinzu kommen Kompensationszahlungen für britische Universitäten, Bauern und Problemregionen. Der Professor ist sich sicher, dass das Vereinigte Königreich ganz klar auf einen „harten Brexit“ zusteuert, bei dem es den freien Zugang zum Binnenmarkt verlieren werde. Ein „harter Brexit“ würde bedeuten, dass der Wohlstand im Vereinigten Königreich langfristig um bis zu 7,5 Prozent sinken könnte. Mit zu den höchsten Gütern der EU zählt die freie Mobilität von Arbeitnehmern im Binnenmarkt, dieses Gut ist für die EU nicht verhandelbar. London befindet sich hier in einer Zwickmühle: „Entweder gibt das Land die zentrale Forderung der Brexit-Befürworter nach Begrenzung der Freizügigkeit auf, oder seine Unternehmen und Banken sind auf ihrem mit Abstand wichtigsten Absatzmarkt, der Europäischen Union, in Zukunft mit hohen Zugangshürden konfrontiert“, stellt der Finanzexperte klar.
Noch ungewiss sei, ob der Brexit wirklich komme. Die Tatsache, dass das Parlament zustimmen muß, macht einen „Brexit-Exit“ wahrscheinlicher. Zumal: „Wenn die Frist erst einmal läuft, reichen zwei Jahre für die komplexen Austrittsverhandlungen nicht aus“, so Heinemann. Zu viele Fragen seien zu klären.
„Wer kann was besser?“ – dies sei das zentrale Thema. Hiernach müssten die Kompetenzen zwischen den Nationen und der Europäischen Gemeinschaft neu verteilt werden,“ Es ist erforderlich, Bilanz zu ziehen“, betonte der Experte. Als Beispiel nennt er die zahlreichen Doppelstrukturen, die in Europa vorherrschen. Durch einen gemeinsamen, europäischen Ansatz ließen sich deutliche Einsparungspotenziale generieren. „28 Armeen, 28 Hauptquartiere…“ – in Bereichen wie Verteidigung, Flüchtlingsaufnahme und Entwicklungshilfe könne man Aufwand und Ressourcen sparen, wenn sie auf europäischer Ebene behandelt würden. „Hier besteht noch großer Handlungsbedarf. Voraussetzung für eine Solidarität in Europa, läßt sich nur erzielen, wenn die Vorteile für einzelne Länder aufgezeigt werden“ zeigt sich der Fiskal- und Steuerpolitikfachmann überzeugt.
Abschließend stellte Heinemann augenzwinkernd fest, dass Memmingen seit 50 Jahren „rot regiert“ werde und er deshalb mit einem Zitat aus dem Jahr 1943 von Willy Brandt und auch der damit verbundenen Hoffnung schließen möchte: „Der Tag wird kommen, an dem der Hass, der im Krieg unvermeidlich scheint, überwunden wird. Einmal muss das Europa Wirklichkeit werden, in dem Europäer leben können.“
Im Anschluss an die Ausführungen des Wissenschaftlers stand Heinemann den Zuhörerinnen und Zuhörer noch für Fragen zur Verfügung.