In jeder Stammtischdiskussion über Europa taucht irgendwann der Vorwurf auf, die EU werde von „anonymen Bürokraten“ gelenkt, deren Entscheidungen auf völlig intransparente Weise zustande kämen. Dieser  Vorwurf zielt hauptsächlich auf die Europäische Kommission ab. Dafür gibt es zwei Hauptgründe: Bis auf den Kommissionspräsidenten bzw. die -präsidentin und vielleicht noch das Kommissionsmitglied aus dem eigenen Mitgliedstaat sind die handelnden Personen den meisten Menschen unbekannt. Und über die Aufgaben und Funktionsweise der Kommission ist das Unwissen nach wie vor groß.

Die Rolle der Europäischen Kommission wird oft mit der von Regierungen verglichen. Das stimmt zwar insofern, als sie die Exekutive der EU ist, die die Verträge, Entscheidungen, gesetzlichen Regelungen und Programme, die die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament beschlossen haben, durchführen und umsetzen muss. Aber die EU ist kein Staat und die Kommission deshalb auch keine Regierung wie man sie aus Staaten kennt. Daher werden die 27 Kommissionsmitglieder (eines pro Mitgliedstaat) nicht direkt gewählt, sondern jeweils von ihren Regierungen vorgeschlagen. Ihr Amt antreten können sie allerdings erst, wenn sie einzeln vom Europäischen Parlament nach einer öffentlichen Anhörung ins Amt gewählt werden. Und das ist keine bloße Formalität. Immer wieder kommt es vor, dass das Parlament Kandidaten oder Kandidatinnen ablehnt. Dieses Verfahren ist also nicht etwa undemokratisch, denn sowohl die Regierungen als auch das Europäische Parlament sind natürlich demokratisch gewählt. Aber der Nachteil bleibt: Die künftigen Kommissionsmitglieder müssen sich keiner direkten Wahl stellen, weshalb sie den Bürgern weitgehend unbekannt bleiben.

Das galt bis zur Europawal 2009 auch für die Kommissionspräsidenten. Seit 2014 aber stellen die großen Parteienfamilien Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten auf. Der Kandidat der Gruppierung, die aus den EP-Wahlen als stärkste Fraktion hervorging, sollte von den Regierungschefs dann als Präsident vorgeschlagen werden. Das funktionierte 2014 auch sehr gut, aber 2019 schlugen die Regierungschefs bekanntlich nicht den vorher als Spitzenkandidat der EVP aufgestellten Manfred Weber vor, sondern zur Überraschung aller Wählerinnen und Wähler Frau von der Leyen. Das hat nicht dazu beigetragen, die Europäische Kommission mit einer Aura von mehr Transparenz und höherer Bekanntheit ihrer Mitglieder zu umgeben. Bei den Wählerinnen und Wählern blieb viel Missmut zurück.

Grund genug für die Europa Union, sich weiterhin für eine direkt vom Europäischen Volk gewählte Kommissionsspitze einzusetzen. Zumindest müssen sich die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten, nach der nächsten Europawahl wirklich die Person zum Präsidenten oder zur Präsidentin zu vorzuschlagen, die zuvor als Spitzenkandidat/in nominiert war!

Die Kommission ist aber nicht nur das Exekutivorgan der EU. Sie ist auch Initiatorin der Gemeinschaftspolitik und „Hüterin der Verträge“.  Allein die Kommission kann Vorschläge für neue Gesetzesakte machen. Allerdings nur auf den Gebieten, für die nach den von den Mitgliedstaaten geschlossenen Verträgen die EU zuständig ist. Diese Einschränkung ist wichtig. So tadelten manche Kritiker die Kommission, weil sie vor oder während der Corona-Krise keine Vorschläge für mehr gemeinsame Gesundheitspolitik gemacht habe. Doch das durfte sie nicht, da die Gesundheitspolitik nach den Verträgen weiterhin im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten liegt. Die EU darf dabei nur unterstützend, aber nicht als Gesetzgeber tätig werden.

Die Rolle als Initiatorin der Gemeinschaftspolitik beschränkt sich nicht nur auf Gesetzesakte. So muss die Kommission auch die Vorschläge für die Mittelfristige Finanzplanung und den jährlichen Haushalt ausarbeiten und sie kann neue Ideen, Programme, auch Vertragsänderungen unterbreiten.

Aber all dies kann sie nur vorschlagen. Damit die Vorschläge Gesetz werden, bedarf es der Zustimmung der Mitgliedstaaten im (Minister-)Rat und des Europäischen Parlaments. Die Behauptung mancher Europakritiker, die Kommission erweitere eigenmächtig die Zuständigkeiten der EU, ist also Unfug. Das könnte sie ohne Rat und Parlament gar nicht.

Sind aber neue gemeinsame Regeln im Gesetzgebungsverfahren oder durch die EU-Verträge beschlossen, so ist damit leider noch lange nicht sicher, dass sich alle Mitgliedstaaten an das gemeinsam Beschlossene auch halten, es korrekt umsetzen und anwenden. Hier ist die Kommission als „Hüterin der Verträge“, man könnte auch sagen, als Schiedsrichterin zwischen den Mitgliedstaaten gefordert. Sogenannte Vertragsverletzungen sind häufig, im Jahr 2018 eröffnete die Kommission gegen ihre damals (vor dem Brexit) noch 28 Mitgliedstaaten insgesamt 644 Verfahren. Oft ging es um die fehlende oder falsche Anwendung geltenden Rechts oder um diskriminierende Ungleichbehandlung von Bürgern oder Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten. In vielen Fällen wurde das Problem schnell behoben, aber mancher Streit ging bis vor den Europäischen Gerichtshof. Als Schiedsrichter, der rügt, droht und verklagt, macht man sich nicht immer beliebt. Einige Verfahren werden öffentlich unter großem Medieninteresse ausgetragen. Und meist stehen die Medien auf der Seite „ihres Mitgliedstaats“, was sicher nicht zur Popularität der Kommission beiträgt. Doch ohne Schiedsrichter würden die Mitgliedstaaten bei Meinungsverschiedenheiten direkt aufeinander prallen und dies verstärkt durch die Medien im jeweiligen Land und in einer Vielzahl von Fällen jährlich! Auch wenn die Europäische Kommission sich dadurch nicht beliebt machen kann, ist ihre Rolle als Hüterin der Verträge und Schiedsrichterin deshalb für das friedliche Zusammenleben der EU-Staaten von unschätzbarem Wert.

Nun besteht die Europäische Kommission ja nicht nur aus den 27 Kommissarinnen und Kommissaren an der Spitze, sondern auch aus gut 32000 Beamtinnen, Beamten und Angestellten in den verschiedenen Dienstellen (Generaldirektionen). Das sind auf den ersten Blick viele, aber sie müssen in 24 Sprachen für ca. 444 Millionen Menschen in 27 Mitgliedstaaten arbeiten. Und sie decken dabei die verschiedensten Themenbereiche wie Landwirtschaft, Umwelt, Soziales, Verbraucherschutz, Binnenmarkt, Wettbewerb (die zuständige Generaldirektion hat die Funktion eines europäischen Kartellamts), Währungsunion, Forschung, Regionalpolitik usw. ab. Die Europäische Kommission hat trotzdem weniger Bedienstete als manche deutsche Großstadt.

Sehr verbreitet ist die Meinung, dass die von der EU gezahlten Gehälter unangemessen hoch seien. Ob das stimmt, ist Ansichtssache. Das Eingangsgehalt beträgt in der untersten Besoldungsstufe 2979,73 Euro brutto, davon sind also Steuern und – anders als für deutsche Beamte – auch Sozialversicherungsbeiträge für Krankenversicherung und Altersversorgung abzuziehen. Hinzu kommt noch für alle, die nicht in ihrem Heimatstaat arbeiten, eine Auslandszulage in Höhe von 16%. Die oberste Gehaltsstufe beträgt, ebenfalls brutto, 20.624,20 Euro. Aber diese Stufe erreichen bis zur Pensionierung nur ca. 1 % der Beschäftigten. Die Einstellungsvoraussetzungen sind streng. Verlangt werden für höhere Posten neben der Beherrschung von mindestens 2 Fremdsprachen ein abgeschlossenes Studium und Berufserfahrung. Und es muss – in einer Fremdsprache! – eine in Wettbewerbsform organisierte Aufnahmeprüfung (Concours) bestanden werden. Dabei ist der Andrang zwar groß, was das Bestehen schwierig macht. Dennoch scheinen die Arbeitsbedingungen für junge Menschen aus wohlhabenden Mitgliedstaaten nicht allzu attraktiv zu sein. So kamen in den letzten Jahren aus Deutschland, das (nach dem Brexit) 18,3 % der EU-Einwohner stellt, nur 6,7 % der Kandidatinnen und Kandidaten des Concours für Bewerber mit Studienabschluss. Sie hatten zwar eine doppelt so hohe Erfolgsquote wie der Durchschnitt aus allen Mitgliedstaaten. Dennoch ist Deutschland unter den jüngeren EU-Bediensteten unterrepräsentiert. Das gilt auch für andere Länder, in denen sich hoch qualifizierte Akademiker gute Bezahlung erhoffen können. Wer eine weitere Absenkung der Gehälter fordert, riskiert also, dass die EU-Verwaltung künftig verstärkt aus Bürgern ärmerer EU-Staaten besteht. Die Frage für Diskussionen in Deutschland über EU-Bezüge lautet: Wollen wir das?

Jochen Kubosch