Ständig vom Begriff der „Krise“ – der Schuldenkrise, Legitimitäts-Krise, Erweiterungs-Krise und Schengen-Krise in Bezug auf die EU zu hören – löst beim Bürger Verwirrung und ein wachsendes Misstrauen aus. Europa durchlebt zurzeit eine entscheidende Phase und zwingt uns, den Mut zu haben Antworten, zu geben auf die Fragen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger. Sonst laufen wir Gefahr, dass die Krise das Einzige bleibt, was die Europäer in wachsendem Widerwillen verbindet. Und angesichts der täglichen Schlagzeilen von Börsencrash und Eurokrise vergisst man leider sehr schnell, wie wir von Europa und der europäischen Integration profitieren.

Die Krise trifft den Kern des europäischen Projekts. Denn eine florierende und wettbewerbsfähige wirtschaftliche Entwicklung Europas ist ohne eine funktionierende Währung auf langfristige Sicht nicht denkbar. Es muss jetzt allen Beteiligten klar sein, dass mittlerweile nicht nur die Zukunft unserer Währung, sondern das Schicksal der europäischen Integration auf der Kippe steht, denn die Krise erschütterte auch in hohem Maße das Vertrauen in eine funktionierende Europäische Union. Heute ist der Euro zum Krisenmoment geworden, der den Zusammenhalt der EU gefährdet. Nach der vorläufigen Rettung des größten Sorgenkinds Griechenland rückten verstärkt auch andere Länder wie Portugal, Spanien, Zypern und Italien ins Blickfeld.

Doch nicht nur die Finanz- und Wirtschaftskrise stellt die EU vor Herausforderungen. In der Schengen-Debatte droht die Gefahr eines der größten Erfolge der europäischen Integration, unser Europa ohne Grenzen und grenzenloser Reisefreiheit, aufs Spiel zu setzen. Gerade in der tiefsten Krise der europäischen Geschichte unsere offenen Grenzen in Frage zu stellen und Grenzkontrollen wieder einführen zu wollen, ist das absolut falsche Signal. Denn offene Grenzen sind das Symbol für ein freies und bürgernahes Europa. Die Einschränkung der Reise-Freiheit im Schengen-Raum, wie sie die EU-Innenminister wieder wollen, wäre ein Rückschritt für Europa. Bereits überwunden geglaubte Grenzen würden damit innerhalb Europa wieder errichtet.

Das europäische Haus darf nicht einfach Schritt für Schritt, indem wir unsere gemeinsame Währung und unsere europäische Reisefreiheit in Frage stellen, zurückgebaut werden. Denn es war nicht die Europäische Integration die Europa an den Rand des Abgrunds geführt hat, sondern das Verhalten der Mitgliedsstaaten, zu wenig europäische Zusammenarbeit und das Nichteinhalten der gemeinsamen Spielregeln. Gerade deswegen dürfen wir jetzt nicht die Gemeinschaftsmethode in Frage stellen und zurückfallen in den Intergouvernementalismus längst vergangener Tage. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das Europa, in dem Entscheidungen in Hinterzimmern zwischen EU-Ministern ausgehandelt werden – bei denen kein vom Volk gewähltes Parlament, weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene beteiligt ist – längst gescheitert ist. Wir wollen ein Europa der Bürger, nicht der Beamten. Nur damit fördern wir die Akzeptanz Europas in den Mitgliedstaaten, alles andere gefährdet Solidarität und Zusammengehörigkeit und birgt die Gefahr der Renationalisierung und der Fragmentierung.

Die institutionelle Entwicklung der EU wurde seit ihrem Bestehen durch mehrere historische Weichenstellungen und entscheidende Impulse, auch mit erheblich divergierenden Vorstellungen über einen möglichen Endzustand, geprägt. So gilt der schrittweise, aber bewusst nicht zielgerichtete Auf- und Ausbau der EU sogar als wesentliches Charakteristikum der europäischen Konstruktion. Jetzt stehen wir wieder an einer entscheidenden Weichenstellung. Eine Reihe von Ideen und Vorschläge für Instrumente liegt auf dem Tisch: Bankenunion, Fiskalunion, Politische Union, Eurobonds, Eurobills, Schuldentilgungsfonds, Wachstumsfonds.

Die Krise führt uns deutlich vor Augen, dass die intergouvernementale Zusammenarbeit eben nicht ausreicht, um Europa aus dieser Krise herauszuholen. Die Weiterentwicklung der EU hin zu einer Politischen Union ist die einzige Antwort, um die Konstruktionsfehler der Euro-Zone und der europäischen Integration zu beseitigen. Dies funktioniert nur durch eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Neugestaltung der EU muss sinnvollerweise in zwei Phasen ablaufen: Zunächst muss die Euro-Zone in eine „Stabilitätsunion“ umgewandelt werden, in der Defizitsünder künftig härter bestraft werden können. Erst wenn die „Stabilitätsunion“ in trockenen Tüchern und der EU-Vertrag von Lissabon entsprechend geändert ist, kann man sich an den nächsten Schritt einer „Politischen Union“ annähern. Mehr Macht für Brüssel darf nicht als Schreckensgespenst benutzt werden. Die Aufgabe bestimmter nationalstaatlicher Gestaltungsmacht wird am Ende ihren Preis wert sein, wenn – wie es mit der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes schon heute vorgesehen ist – Europa die Kontrolle der gemeinsam verabredeten Ziele übernimmt.

Der Auf- und Ausbau dieser Politischen Union darf keine Frustration auslösen. Ängste, Bedenken und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger müssen ernst genommen und durch Antworten auf ihre Fragen ausgeräumt werden. Sonst droht, dass sich gerade die jungen Menschen der krisengeschüttelten Länder in Hoffnungslosigkeit verlieren. Die Gefahr wächst, dass aus ihrer Verzweiflung politische Radikalisierung wächst und dass sie sich von diesem Europa abwenden. Europa, das bedeutet für sie nicht mehr Reisefreiheit, gleiche demokratische Rechte oder freie Arbeitsplatzwahl, sondern Verschlechterung der Lebensverhältnisse, Verlust der Arbeit, Perspektivlosigkeit. Europa darf nicht zum Symbol für Perspektivlosigkeit werden, sondern muss wieder Sicherheit und Vertrauen schaffen.

Die Europa-Union leistet schon seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag, um für Europa seine Vorteile und seine wunderbaren Errungenschaften zu werben. Auch in Zukunft wird die Arbeit der Europa-Union ein zentraler Schlüssel sein, um das Verständnis für Europa zu fördern und Europa auch in der Krise den Menschen zu erklären.

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Markus Ferber, MdEP

Vorsitzender der Europa-Union Bayern e.V.

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