Im heutigen Krisenkontext kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass das europäische Integrationsprojekt EU scheitert – oder zumindest soweit werte- und sinnentleert wird, dass von der europäischen Idee einer „immer engeren Union der Völker Europas“ (Artikel 1 EUV) nicht mehr viel übrigbleibt. Dies aber darf nicht geschehen, weil allzu viel auf dem Spiel steht: Europas innerer und äußerer Frieden, seine Werte, sein Wohlstand, seine Zukunfts- und Überlebensfähigkeit. Darum muss ein Ruck durch Europa gehen.
Derzeit sind die inneren Probleme gewaltig. Sie reichen von Wachstumsschwächen, hoher Arbeitslosigkeit und labilen Staatsfinanzen bis zu Desintegrationsgefahren in Gestalt des drohenden Brexit. Hinzu kommen offene Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit und damit den Kern unserer Wertegemeinschaft. In der aktuellen Flüchtlingskrise zerfällt Europas Zusammenhalt rapide, konkret ist die Freizügigkeit im Schengenraum bedroht. Auch äußere Gefahren bedrängen die EU, wie der Ukraine-Konflikt sowie der immer näher rückende islamistische Terror. Auf all diese inneren und äußeren Konfliktlinien vermag die EU nur sehr unzureichende Antworten zu geben.
Besonders gefährlich ist, dass immer mehr Bürger der EU das Vertrauen entziehen; sie glauben nicht mehr daran, dass Europa ihnen nützt, ihnen Sicherheit, Wohlstand und ein besseres Leben bringt. Vielmehr sehen sich viele als Verlierer und wenden sich extremen, vor allem rechtsextremen Parteien zu, die Abschottung, Renationalisierung und Fremdenfeindlichkeit als Antworten auf hochkomplexe Problemlagen propagieren. Das gilt – um nur einige große Länder zu nennen – für Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und mit dem Aufstieg der AfD nun auch für Deutschland. Mit ihrer massiven Abwendung vom europäischen Einigungsprojekt tragen diese Menschen zum möglichen Scheitern der EU bei.
Was tun? Und: Wer muss was tun?
Die riesigen Herausforderungen, die derzeit die EU gefährden, verlangen nach starken und klaren Antworten. Diese müssen sowohl von den Brüsseler als auch den einzelstaatlichen europapolitischen Akteuren kommen. Auf EU-Ebene muss bei der Verteidigung der Grundwerte ein entschiedenerer, härterer Kurs eingeschlagen werden. So ist das kürzlich eingeleitete Rechtsstaatsverfahren gegen Warschau zu begrüßen; auch Budapest sollten die Grenzen aufgewiesen werden. London hat zu akzeptieren, dass auch die EU rote Linien definieren kann. Paris und Rom müssen verinnerlichen, dass Maastricht-Kriterien und Fiskalpakt auch für sie gelten und Berlin ist klarzumachen, dass niemand ein deutsches Europa will.
Wesentlich mehr noch als Brüssel selbst können und müssen die Mitgliedstaaten tun, um die EU zu stärken und – dies ist das wichtigste – bei den Bürgern wieder Akzeptanz und Vertrauen für Europa zu schaffen. Alle 28 EU-Staaten sind dringend aufgerufen, aktiver und konstruktiver zum Gelingen Europas beizutragen. Angesichts der Geschichte und Struktur der EU aber sehen sich Frankreich und Deutschland als unersetzlicher „Motor der Integration“ hier besonders gefordert. Berlin und Paris müssen Neues wagen, um den erforderlichen mentalen Ruck zu erzeugen.
So sollten Deutschland und Frankreich bei der Schaffung neuer EU-Führungsstrukturen vorangehen. Es muss endlich Schluss sein mit dem latenten Konkurrenzkampf zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten, der meist auf Kosten der EU ausgeht. Vielmehr gilt es, neue Formen der Kooperation und Arbeitsteilung zu finden, um Synergien zu schaffen. Regelmäßige, häufige gemeinsame Auftritte von deutschen, französischen (sowie anderen nationalen) und EU-Akteuren könnten hier ein allererster Schritt sein, um Führungswillen und mehr Mit- statt Gegeneinander zu demonstrieren.
Auch müssen Berlin und Paris eine breite Debatte zum Thema „Warum und wozu Europa?“ entfachen. Den EU-Bürgern ist das Friedens- und Wohlstandsprojekt Europa auf der Grundlage heutiger Notwendigkeiten erneut zu erklären; denn viele haben Sinn und Zweck eines vereinten Europas aus den Augen verloren. In einer neuen, zukunftsgewandten, identitätsstiftenden „Erzählung“ müssen europäische Antworten auf die heutigen Herausforderungen formuliert werden. Und es gilt, Kerneuropa als ein Europa der Willigen vorzuschlagen – damit ganz Europa wachgerüttelt wird und sich wieder auf Sinn und Zweck der Einigung besinnt!
Von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen an der Universität Würzburg