Am 24. Februar 2022 überfiel die russische Armee das Nachbarland Ukraine. Wenige Tage zuvor hatte Präsident Selenskyj per Video die Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz genau davor gewarnt. Drei Tage später stellte Bundeskanzler Scholz in einer Regierungserklärung fest „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“

Dass Europa in dieser anderen Welt eine andere Rolle spielt und auch spielen muss, weil es als Global Player in ihr vermutlich seine letzte Chance bekommt, haben der Krieg in der Ukraine und die damit in direktem und indirektem Zusammenhang stehenden Ereignisse und Entwicklungen des vergangenen Jahres weltweit und auch bei uns in Deutschland deutlich gezeigt.
Der Krieg dauert auf unabsehbare Zeit an. Der russische Diktator hat die strategischen und organisatorischen Fähigkeiten seiner Militärs zwar überschätzt; zudem hat er nicht mit dem erbitterten Widerstand der ukrainischen Armee gerechnet, auch nicht mit dem in der ukrainischen Bevölkerung immer weitere Kreise ziehenden Freiheitsdrang, in einer unabhängigen, durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geprägten Nation leben zu wollen.
Verrechnet hat sich der Machthaber in Moskau aber auch – bisher zumindest – in der Unterstützung der Ukraine in erster Linie durch die in NATO und EU organisierten Staaten. Sein Kalkül, die Mitgliedsländer der beiden Bündnisse auf der Basis ihrer unterschiedlichen nationalen Interessen gegeneinander auszuspielen und damit ihre gemeinsame Solidarität mit der Ukraine auszuhöhlen, ist nicht aufgegangen, vielleicht NOCH nicht.

Der militärisch und auch wirtschaftlich mit Abstand bedeutendste Unterstützer der Ukraine, die USA, ist gerade dabei, sich in den Wahlkampf für die nächste Präsidentschaft zu verabschieden. Nicht auszudenken wären die Konsequenzen für NATO und Europa, im Besonderen für die Unterstützung der Ukraine, sollten sich europafeindliche isolationistische Tendenzen durchsetzen, wie sie in den rechten Kreisen der republikanischen Partei kursieren. Aber auch die Demokraten mit dem amtierenden Präsidenten können im Wahlkampf offenbar nur mit einer an „America first“ erinnernden Wirtschaftspolitik bestehen. So dient etwa der „Inflation Reduction Act“, ein Gesetz zu Klimaschutz, zu Energiesicherheit, mit neuen Unternehmenssteuern und günstigen Medikamenten, zwar vordergründig als Inflationsbremse in den USA, hat aber auch stark abschottende Wirkung gegenüber Europa.
Der alte Kontinent muss sich deshalb auf sein eigenes wirtschaftliches Potenzial und seine Stärke besinnen, durchaus auch als Konkurrent zu den USA. Dieses Potenzial kann er aber nur im Verbund der Europäischen Union wirksam in Stellung bringen. Das zeigte sich in der Pandemie mit der gemeinsamen Beschaffung von Impfstoff, als der europäische Schulterschluss nach mehr als holprigem Start mit Masken und medizinischer Ausrüstung schließlich doch überzeugend gelungen ist. Nach diesem Vorbild soll jetzt auch die Beschaffung von Munition für die Ukraine gelingen, angesichts des dringenden Bedarfs neben der Lieferung von Panzern eine weitere zentrale Bewährungsprobe für den Zusammenhalt der NATO-Länder in der EU, aber auch für Länder wie das Vereinigte Königreich und die Schweiz, die sich der Ukraine mit den Werten der Europäischen Union verpflichtet fühlen.

Die Zeitenwende rückt auch Länder auf den anderen Kontinenten Asien, Südamerika und Afrika in den Fokus der Aufmerksamkeit. Vor allem in Afrika versucht Russland seinen Einfluss zu verstärken; die Europäische Union muss dort Flagge zeigen und ihre Werte als das bessere politische Modell für die Zukunft erkennbar machen. Die Afrika-Reise der deutschen Außenministerin und auch die Südamerika-Reise von Bundeskanzler Scholz stehen sinnbildlich für die Erinnerung an halb vergessene Freunde und Verbündete. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz konnte man zudem erahnen, dass die höchstrangigen Vertreter der Länder Aserbeidschan, Armenien und Georgien, drei Länder mit gemeinsamen Grenzen und dem gemeinsamen Schicksal, im Bannkreis Russlands den Machtspielen Moskaus bisher ausgeliefert zu sein, im Begriff sind sich ganz vorsichtig einander anzunähern.

Auch die in München versammelten Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister der acht Balkanländer bringt die Desillusionierung durch den offenbar zu allen Brüchen des Völkerrechts bereiten russischen Aggressor zu vertraulichen Gesprächen zusammen. „Sie lechzen nach Europa, nach einer Alternative für die dunklen Fummeleien Russlands und ihrer eigenen Autokraten, nach einer positiven Geschichte für die jungen Leute, die zu Tausenden in die EU abwandern. Russland jedenfalls wird nur noch als destruktiv wahrgenommen.“ (Stefan Cornelius: „Die Zerbrechlichkeit der Welt“ in SZ-online 19.02.2023).

Es bleibt Chinas Ankündigung auf der Münchner Konferenz, als Vermittler im Ukraine-Krieg zu fungieren – möglicherweise ein vergiftetes Angebot angesichts der Tatsache, dass China durch die (erweiterte) Abnahme von russischem Erdöl und Erdgas sowie durch die Lieferung sogenannter „dual use“-Materialien wie Computer-Chips, die sowohl zu zivilen als auch zu militärischen Zwecken eingesetzt werden können, sich längst auf der Seite Russlands befindet. Zudem flog Wang Yi, Chinas oberster Außenpolitiker, von der Sicherheitskonferenz in München bezeichnenderweise direkt nach Moskau, wo er sich am 24. Februar 2023 voraussichtlich aufhalten wird.

Die Europäische Union steht ein Jahr nach Russlands Überfall auf die Ukraine geschlossen hinter der Ukraine. Ein unmittelbar bevorstehendes Paket mit weiteren Waffen- und Munitionslieferungen, aber auch mit Wirtschaftssanktionen aus Brüssel steht in diesen Tagen an. In der Debatte um Panzerlieferungen ist der neue deutsche Verteidigungsminister innerhalb der EU und der NATO-Bündnispartner mittlerweile in die Rolle des „Einfordernden“ und Anschiebers gekommen, wo seine Vorgängerin und mehr noch der Bundeskanzler fast ein Jahr lang eher als Bremsende wahrgenommen wurden.
Aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten zu sein scheint mir zudem das überzeugende Bekenntnis des Bundeskanzlers zu einer klar auf Europa konzentrierten militärischen Strategie in seiner „Zeitenwende“-Regierungserklärung am 27. Februar 2022:
„Deshalb werden wir unsere Resilienz stärken, technisch und gesellschaftlich, zum Beispiel gegen Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, gegen Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur und Kommunikationswege. Und wir werden technologisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Darum ist es mir zum Beispiel so wichtig, dass wir die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern und insbesondere Frankreich hier in Europa bauen. Diese Projekte haben oberste Priorität für uns.“

Das Wissen um das politische, wirtschaftliche und militärische Gewicht Europas, das Hintanstellen nationaler Interessen zugunsten eines einigen GLOBAL PLAYER EUROPA, muss die Lehre aus der Zeitenwende seit dem 24. Februar 2022 sein.
Wenn nicht jetzt, wann dann?

Georg Fath
 23. Februar 2023