Unser Vorstandsmitglied Joachim Pehlke hat sich sehr beachtenswerte Gedanken zum Frieden gemacht, die er auch in der Jahresversammlung am 5. Mai 2022 vortrug. Zur Zeit des brutalen Krieges in der Ukraine sind diese drängend aktuell. Hier sind sie:

Frieden in Europa

Liebe Freunde Europas,

Friede (oder Frieden) ist ein heilsamer Zustand der Stille oder Ruhe. Frieden ist  die Abwesenheit von Störung oder Beunruhigung und besonders von Krieg. Frieden ist das Ergebnis einer Tugend der „Friedfertigkeit“ und damit verbundener Friedensbemühungen. So die Definition in Wikipedia.

Laut Brockhaus ist Frieden der Zustand eines ungestörten Miteinander- und Nebeneinanderlebens von einzelnen Menschen, Gruppen und Gemeinschaften.

Menschen haben sich zu allen Zeiten nach Frieden gesehnt, bewahren konnten sie ihn aber auf Dauer nie. Provokant gesagt: Frieden ist immer nur die Zeit zwischen Kriegen. Frieden als Zeit ohne Krieg.

Bereits vor über 500 Jahren beschrieb Thomas Morus in seinem Roman „Utopia“ eine Welt als Insel der Glückseligen, die gesellschaftlich streng organisiert in einem friedlichen Miteinander glücklich sind. Er nennt es bewusst Utopie, die Darstellung einer idealen Welt, die irgendwann in der Zukunft vielleicht doch Wirklichkeit werden könnte.

Immanuel Kant beschrieb in seinem Werk „Zum ewigen Frieden“ die drei definitiven Säulen, die eine Friedensordnung bestimmen können:

  1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein

Dazu gehört etwa die Rechtsstaatlichkeit mit der Gewaltenteilung als oberste Prämisse, die Trennung von Exekutive und Legislative. Dazu gehört auch die Gleichheit aller vor dem Gesetz, auch die der Herrschenden. Ganz im Gegensatz zum Despotismus.

  1. Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein.

Nur im Miteinander, der Gründung von Völkerbünden unter Berücksichtigung der jeweils staatlichen Souveränität kann, mit gleichzeitig gegenseitiger Verpflichtung zum Frieden, um zu versichern, nicht sich Rechte an anderen Staaten erwerben zu wollen. Im Völkerbund blieben die Staaten nach innen souverän und nach außen kaum eingeschränkt souverän

  1. Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.

Damit soll ein Besuchsrecht in jedem anderen Staat ermöglicht werden, wobei der Besucher sich genauso frei bewegen darf wie in seinem Heimatland, und wo er friedfertig willkommen geheißen wird.

Diese drei Definitionen von Kant aus der Zeit der Aufklärung sind eine wesentliche Stütze für das Zusammenwirken von Staaten innerhalb westlicher Bündnisse geworden. Dieses Verständnis hat zu dieser einzigartigen Verflechtung europäischer Staaten in der Europäischen Union geführt.

Und lange erschien das westliche Bündnis von NATO oder der EU als Garant für Frieden und Sicherheit.

Europas lange Geschichte, wie die der Welt, ist gezeichnet durch Kriege, eigentlich seit den Zeiten der Jäger und Sammler. Die Liste der Kriege ist lang. In Europa endet sie mit dem 2. Weltkrieg – lässt man den Jugoslawienkrieg außer Acht, der erstmals die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, in er sich Europa auf die Unverletzlichkeit der Grenzen geeinigt hatte, gebrochen hatte. Und wenn man die Kriege in Tschetschenien und Georgien, oder die Besetzung der Krim ignoriert, die nur kurz für Empörung in Europa und der Welt sorgten.

Rein politisch wurde eine Friedensordnung als realisierbare Zielvorstellung in Europa also erst möglich, nachdem durch die Industrialisierung und der Demokratisierung die traditionelle Staatenwelt von Fürstentümern und Grafschaften durch die entstehende moderne Gesellschaftswelt abgelöst wurde.

Und doch brauchte es zwei Weltkriege, bis sich eine stabilitätsschaffende Politik etablieren konnte.

Fehler wurden aber dennoch gemacht.

Der Vertrag von Rapallo, den Walther Rathenau vor genau 100 Jahren mit dem russischen Außenminister Georgi Tschitscherin schloss,  wurde zur Grundlage diplomatischer Beziehungen eines besiegten Deutschland zum sozialistischen Russland. Vereinbart wurde die Lieferung von deutscher Technologie an Russland, die uns dafür mit Öl versorgten. Und dies trotz der Ablehnung durch die anderen westlichen Mächte. Das hat sich in der jüngeren Geschichte  fortgesetzt mit der  „Appeasement-Politik“ von Adenauer, Brandt und Schröder, also einer Politik der Zugeständnisse, der Zurückhaltung, der Beschwichtigung und des Entgegenkommens gegenüber Aggressionen zur Vermeidung eines Krieges. Bis hin zum zögerlichen Verhalten der jetzigen Koalition unter Olaf Scholz. Das Fiasko der Russlandpolitik setzt sich fort. In den 100 Jahren seither haben wir nichts dazugelernt.

Noch eine weitere Betrachtung: Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte bereits in den 90er Jahren geschrieben, dass die Geschichte zu Ende sei. Mit dem Kapitalismus würde sich das westliche, liberale Modell über den Globus ausbreiten und ein für alle Mal allen kriegerischen Handlungen ein Ende setzen. Demokratie und eine stabile Friedensordnung würden die Oberhand behalten.

Die Sichtweise war damals nicht so weit hergeholt: Der Kommunismus im Osten war besiegt, selbst China änderte seine Ausrichtung und schwang sich zur Werkbank des Westens auf, Russland durfte immer mehr billiges Öl und Gas in den Westen liefern, um so das Wachstum bei uns zu fördern, und wir konnten mit den billigen Rohstoffen prächtig den Weltmarkt bedienen. Die wirtschaftliche Verkettung kannte keine Grenzen, zumal nun im Osten auch weitere Absatzmärkte durch deren wachsenden Wohlstand entstanden waren.

Letztlich hat der Handel aber nicht Freiheit und Menschenrechte gebracht, sondern stützte Autokraten wie Putin, die mit ihren Großmachtphantasien Europa, und der Welt, gefährlich werden.

Frieden ist immer nur die Zeit zwischen den Kriegen. Und Kriege gab es in Europa zu jeder Zeit – bis zum zweiten Weltkrieg.

Doch seit dem 2. Weltkrieg und der Atombombe herrschte etwas in Europa, das bisher nicht bekannt war: Frieden.

Endlich schien Gesamt-Europa sehr daran interessiert, die Erhaltung des Friedens als Hauptziel zu definieren. Man war der Kriege müde. Es war dies das Credo der Gründungsväter unserer heutigen europäischen Union. Ganz im Sinne von Immanuel Kant.

Allein der Wunsch nach Frieden genügt aber nicht, um diesen auch zu bewahren.  Man war sich bewusst, dass ebenso andere komplementäre Ziele verfolgt werden müssen. Es galt, horizontale Ungleichheiten in den Ländern, aber vor allem auch zwischen den Ländern der EU zu verringern. Es galt, die Armut zu bekämpfen, benachteiligte Schichten zu integrieren und wirtschaftliche Entwicklung in jenen Regionen zu unterstützen, wo dies dringend erforderlich war. Da war etwa der Wiederaufbau des zerstörten Europa mit dem Marshallplan, der auch Deutschland einbezog. Hinzu kamen reihenweise Wirtschaftsaufbau-Programme mit unterschiedlichen Schwerpunkten, bis hin zu weitreichenden Förderprogrammen aus europäischen Struktur- und Investitionsfonds, die ca. 80% des heutigen EU-Haushalts umfassen. Und natürlich die stete Erweiterung der Union nach Süden und nach Osten.

Jedoch war der Frieden der vergangenen 77 Jahre, in dem sich Europa bis vor Kurzem lüstern gewälzt hat, lange nicht selbstverständlich gewesen. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit seinen 55 Millionen Toten waren allgegenwärtig. Die Fronten zwischen Ost und West verhärtet, der Kalte Krieg hielt alle in Atem. Die Welt begab sich in einen Rüstungswettlauf, der bis zum Zerfall des Ostblocks als ständige Warnung vor möglichen weltbedrohenden Eskalationen über uns hing. Eine Erfahrung, die der jüngeren Generation, die nur ein friedliches Europa seit 1989 gekannt haben, nicht gemacht haben.

Eigentlich möchte ich sagen – zum Glück. Doch hat es in gewisser Weise dazu geführt, dass wir uns in unserem zunehmenden Wohlstand, einer gewissermaßen unersättlichen Sattheit, immer weiter auf Konsum, auf Wachstum und Globalisierung gestürzt haben und dabei den herrschenden Frieden in Europa als etwas Selbstverständliches, als erreichtes Utopia,  betrachtet  haben. Selbst das politische Handeln, vor allem in Deutschland, war zunehmend von Slogans wie „Frieden schaffen ohne Waffen“  gekennzeichnet.

Und dies war verbunden mit einem fast religiösen Glauben an den Fortschritt als Motor für einen fast visionären Kreuzzug, den Europa seither in die Welt seither getragen hat. Eine Vision, in der Krieg keinen Platz hat. So wird auch verständlich, warum diese Kriege gegen Tschetschenien und Georgien, Putins Bomben auf Syrien oder die Besetzung der Krim kein so erschütterndes Echo in den Medien erfahren haben, wie jetzt der Krieg in der Ukraine. Krieg passte nicht ins Bild des Fortschritts, hin zu einer besseren Gesellschaft, zu einem besseren Land oder zu einer besseren Welt. Erst jetzt mit dem Krieg in der Ukraine wird plötzlich deutlich, in welcher Gefahr unsere europäischen Werte sind. Erst jetzt wird gefragt, ob dieser Fortschritt nicht zu teuer erkauft worden ist.

Schon Schiller hat gesagt: es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Nun ist es passiert. Dieses zarte Pflänzchen „Frieden in Europa“ wird mit Füßen getreten. Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine macht deutlich, wie zerbrechlich der Zustand des Friedens ist.

Wir erkennen aufs Neue, wie fragil eine friedliche Ordnung sein kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Wir hatten vergessen, wie Friedenssicherung aussehen muss. Viele Jahre lang schien Europa in einen Winterschlaf zu liegen.

Die grundlegenden Werte, die Europa bedeuten – Frieden, Freiheit und Demokratie – wurden nicht mehr gepflegt, wurde als gegen hingenommen, teils mit Füßen getreten. Die Folge waren zunehmende nationale Egoismen, demonstrative Uneinigkeit, sicherheitspolitische Naivität, militärische Schwäche und eine immer stärker zu Tage tretende „putineske“ Verblendung mancher europäischer Parteien nicht nur des linken und des rechten Flügels.

Die Erinnerungen an die schrecklichen Zeiten der jüngeren Vergangenheit scheinen zu verblassen. Der Holocaust wird als „Vogelschiss der Geschichte“ diffamiert.

Vielleicht ist meine Wahrnehmung falsch, wenn ich sehe, dass die fehlende Gewalt zwischen den Staaten durch zunehmende Gewalt im zwischenmenschlichen kompensiert wird, gepaart mit erfahrbarer Respektlosigkeit im Umgang miteinander. Doch das ist ein anderes Thema.

Europa scheint politisch wieder auf Kurs, weil wir erkennen, Frieden, Freiheit und Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif.

Europa ist endlich erwacht, und Rapallo wirkt als heilsame Erinnerung. Es geht nicht um Landgewinn oder Bodenschätze. Alle Handelsverflechtungen schützen uns nicht vor Risiken von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen souveränen Staaten. Aktuell ist es die Freiheit, der sehnliche Wunsch der Ukrainer nach Frieden in Freiheit, von dem sich Moskau in der Person von Vladimir Putin in seiner Herrschaft bedroht sieht.

Leider lernt die Menschheit nicht dazu. Es gibt keinen Krieg mehr, in dem der eine gewinnt, was der andere verliert. Alle erleben nur menschliches Leid.

Die Zeit der imperialistischen Kriege ist schon lange vorbei.

Ein Krieg ist immer eine Katastrophe, zivilisatorisch und humanitär. Und doch brauchte es diesen Krieg, um uns die Augen zu öffnen und wieder klar zu sehen, was im Leben wirklich zählt. Beruflicher Erfolg, gesellschaftliches Ansehen, Wohlstand – all das mag erstrebenswert sein. Aber es wird deutlich, dass Werte wie Freiheit und Demokratie, Familie und Freundschaften immer von neuem verteidigt werden müssen.

77 Jahre lang waren die Überschriften in Europa dominiert vom Slogan „Frieden in Europa“. Seit dem 24. Februar dominiert die Schlagzeile „Krieg in Europa“. Wir werden abrupt aus einem Dornröschenschlaf gerissen und reiben uns verwundert die Augen.

Wir erkennen, dass die Wertegemeinschaft gleichzeitig eine Verteidigungsgemeinschaft sein muss. Für den Frieden in Freiheit müssen wir als europäische Gemeinschaft eben diese Gemeinschaft viel mehr in den Mittelpunkt jedes politischen Handelns stellen. Ein wichtiger Punkt trat hierbei in den letzten Wochen vermehrt zu Tage:  wir müssen viel mehr an die sicherheitspolitischen Interessen vor allem unserer östlichen Partner in den Bündnissen denken. Denn der böse Nachbar, es gibt ihn tatsächlich.

 

Meine Ur-Oma heiratete 1912, Ihr Mann fiel im ersten Weltkrieg, meine Oma wurde vaterlos geboren. Sie wiederum hat 1934 geheiratet. Mein Vater konnte sich an seinen Vater nicht erinnern. Großvater zog bereits 1941 an die Ostfront und war seit der Schlacht um Stalingrad vermisst.

Im Januar 1945 flohen beide Frauen zusammen mit meinem Vater und meinem Onkel aus dem eingekesselten Ostpreußen.

Ur-Oma sollte in Gotenhafen auf der Gustloff einschiffen. Dabei wird wie von der Familie, ihrer Tochter und den beiden Enkeln getrennt.

Doch da nur Mütter mit Kindern und verwundete Soldaten an Bord gelassen wurden, wurde ihr der Zutritt auf das Schiff verwehrt. Kurz nach dem Auslaufen wurde die Gustloff von einem sowjetischen U-Boot versenkt. Ca. 10.000 Menschen fanden einen qualvollen Tod.

Durch das Rote Kreuz fand die Familie wieder zusammen und machte sich über die gefrorene Ostsee auf den mühsamen Weg nach Dänemark.

In beiden Weltkriegen fanden über 80 Millionen Menschen den Tod. Seitdem herrscht Frieden in den Ländern der europäischen Gemeinschaft. Erst möglich durch den Schulterschluss auf demokratischen und liberalen Werten. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

Frieden und Freiheit ist für mich der vielleicht wichtigste Grund, mich als Europäer zu fühlen und zu engagieren. Frieden, der für die Generation, die nach 1980 geboren ist, zur Normalität geworden ist. Der Wunsch nach Frieden ist ein mächtiger – jedoch muss jedem klar sein, dass Frieden nicht einfach geschieht und dann da ist. Frieden will immer wieder gepflegt werden. Frieden muss immer auch gesichert werden, damit er gedeihen kann. Denn der böse Nachbar ist leider auch morgen noch da.

 

Danke

Joachim Pehlke